Gut laut

Beim Aufräumen fiel mir gerade dieses Buch in die Hände: „Gut laut“ von Andreas Neumeister, erschienen 1998 im Suhrkamp Verlag. Damals lief das unter Popliteratur, was in Neumeisters Fall nicht nur hieß, dass es in seinem Buch viel über Schallplatten geht die er mag und um Musik, die ihm mal etwas bedeutet hat. Sondern, dass der Schreibstil sich auch an Stilmittel aus dem Pop anschmiegt, der Repetition etwa. Damals gefiel mir das.

Neumeister

Als ich heute drin rumblätterte, fiel mir folgende Passage auf.

„Zu Carl: Diejenigen, die am wenigsten Platten haben, das heißt diejenigen, die im allgemeinen am wenigsten für Musik übrig haben, darauf kannst Du wetten, haben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die allergrößten Anlagen. Die wirklich Musikbesessenen, darauf kannst Du wetten, haben häufig die winzigsten Anlagen, für die wirklich Musikbesessenen ist die Stereoanlage immer zur Hälfte auch Möbel, zu dieser Hälfte also auch versetzbar und zu Tonträgern zu machen. Zu Carl: Der bloße Anblick von Thomas‘ Plattensammlung bei meinem ersten Besuch in dessen früherer Wohnung im Bahnhofsviertel hatte mich sprachlos gemacht, ein komplettes Zimmer restlos vollgestopft mit Tonträgern. In der Mitte einer dieser raumhohen, raumbreiten Plattenwände, eingezwängt zwischen den über die Jahre angesammelten Tonträgern, die äußerst mickrige Anlage, direkt drüber und direkt nebeneinander, die nicht minder mickrigen Boxen. Die Stereophonie, das war offensichtlich, hätte für Thomas nicht erfunden werden müssen
selbst besitze ich eine Anlage mittlerer Größe, untere Mittelklasse, würde ich sagen und dazu, logisch, auch nur mittelviele Platten“

Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Auf mehreren Ebenen. Zum einen: Ja, stimmt. Die größten Plattensammler, die ich kennen gelernt habe, im Berlin der Neunziger, Leute, die die Garage ihrer Mutter noch vollstellten mit den Sachen, die zu Hause keinen Platz mehr hatten, die keinen Flohmarkt ausließen, ohne mit ein paar dutzend Platten zurückzukommen, die hatten meist „mickrige“ Anlagen. Was dem schlichten Umstand geschuldet war, dass sie auch gar kein Geld hatten. Sondern Berliner Hinterhofslacker waren, deren Leben davon handelte, subkulturelles Wissen anzuhäufen. Für eine Weile oder für immer. Ein Freund von mir gab so konsequent sein Geld für Platten aus, dass ihm irgendwann der Strom abgestellt wurde, und er die Musik überhaupt nicht mehr hören konnte.

In Klammern: Sie hatten alle Technics 1210 DJ-Plattenspieler. Das war so. Die meisten lebten ja auf die eine oder andere Art vom Auflegen, und da war dann irgendwann so ein Plattenspieler hängengeblieben.

Also ja – empirisch kann ich bestätigen, was dem Protagonisten des Buchs an dieser Stelle durch den Kopf geht. Wobei die automatische Gleichsetzung von großer Plattensammlung mit großer Musikbesessenheit wahrscheinlich nicht so wirklich aufgeht. Aber vielleicht ist das auch nur heute so, wo man ja eh streamen kann, was man will und die Platte ein noch viel reineres Fetischobjekt geworden ist als sie es damals schon war.

Aber dieser Überhöhung des Tonträgers gegen die Stereoanlage liegt doch auch ein Missverständnis zugrunde, zumindest wenn es sich um Pop-Platten im allerweitesten Sinne handelt. Pop ist eine Kultur, die erst mit der Aufnahme möglich wurde, die eben nicht auf Notenblättern basiert, sondern auf Aufnahmen: recordings, records. Ohne Studiotricks kein Pop. Ohne die künstliche Intimität, die man zu der mikrophonierten Stimme aufbaut, auch kein Pop. Und das will und muss man doch auch hören. Die gesamte elektronische Tanzmusik der vergangenen 30 Jahre basiert auf der großen Kunst des Sounddesign. Warum also diese Missachtung der Musikwiedergabe?

Es hat bestimmt mit Punk zu tun, wäre meine Arbeitshypothese. Nicht mit dem historischen Punk. Oder nicht nur, der richtete sich ja damals auch gegen die ausgefeilten, überproduzierte Rockmusik der Siebziger, die nicht zuletzt dazu gemacht worden war, auf großen Anlagen groß zu klingen – kann man ja bis heute in den Hifi-Foren sehen, wo gefühlt jede zweite Platte, die auf einem Foto zu sehen ist, von Pink Floyd kommt. Aber ein bleibendes Motiv von Punk und Postpunk ist doch die Vorstellung, dass Pop einfach sein müsste, selbstgemacht und irgendwie rough. Konkret hält das in seinem Musikgeschmack natürlich niemand durch, aber wenn es um die Anlage geht, dann haben in ihrer Verachtung bestimmt Spurenelemente davon gehalten.

Konkret ist es ja eh gleich. Die meisten Motown-Platten dürften auf billigen Jugendzimmer-Plattenspielern gehört worden sein und haben trotzdem ihre Wirkung entfaltet, so wie heute Miley Cyrus oder Haftbefehl auf dem Telefon gehört wird, was auch nicht viel besser ist als der alte Plattenspieler und trotzdem seinen Zauber hat.

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